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Mafiastaat
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2007 trat Luke Harding seinen neuen Posten als Moskau-Korrespondent der britischen Tageszeitung The Guardian an. Schon in den ersten Monaten brachen mysteriöse Agenten des russischen Geheimdienstes FSB — des Nachfolgers des KGB — in seine Wohnung ein. Er wurde von Männern in Kunstlederjacken beschafftet und sogar ins berüchtigte KGB-Gefängnis Lefortowo einbestellt.
Die Einbrüche waren Auftakt eines außergewöhnlichen psychologischen Kleinkriegs gegen den Journalisten, der sich durch seine unerschrockene Berichterstattung über politische Morde, Rechtsextremismus, ländliche Armut und den Georgienkrieg weiter unbeliebt machte. Nachdem Harding aus einer amerikanischen WikiLeaks-Depesche zitiert hatte, in der Russalnd als «regelrechter Mafiastaat» bezeichnet wurde, gipfelte die Kampagne Anfang 2011 in der Verweigerung der Wiedereinreise – er war damit der erste Journalist, nach Ende des Kalten Krieges, der faktisch des Landes verwiesen wurde.
In MAFIASTAAT schreibt Luke Harding nicht nur über die heimtückischen Methoden, die der Kreml unter Wladimir Putin gegen «Feinde» einsetzt – Menschenrechtsaktivisten, Oppositionelle, westliche Diplomaten und Journalisten –, sondern ordnet sie in die jüngste russische Geschichte ein. Sein Bericht ist ein mitreißendes und verstörendes Porträt des heutigen Russlands – und vor dem Hintergrund der Annexion der Krim durch Russland im März 2014 von ungebrochener Aktualität!
Das Buch gibt eine Antwort darauf, warum Russland dringend Reformen braucht und warum sie mit einem Präsidenten Putin sicherlich nicht kommen. Manche Passagen lesen sich wie ein Agententhriller.
Ein unterhaltsamer und alarmierender Bericht aus Wladimir Putins Polizeistaat.
Angesichts der Wiederwahl Putins hat das Buch besondere Resonanz. MAFIASTAAT wirft einen bohrenden, ernüchternden Blick auf eine mächtige – und gestörte – Nation.
Excerpt
Von seinem gigantischen Monument über der Stadt Sewastopol schaut Lenin hinaus aufs Schwarze Meer. Unten im Hafen baden ältere Damen in geblümten Badeanzügen in dem warmen, lilafarbenen Wasser. Weiter entfernt schimmert ein russisches Kriegsschiff, die Moskwa, gerade zurückgekehrt aus dem Georgienkrieg. Der Hafen von Sewastopol liegt an der felsigen Südküste der Krim, einer autonomen Republik innerhalb der Ukraine und Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion versprach die Ukraine, Russland dürfe die Basis in Sewastopol bis 2017 behalten. Als ich allerdings Wiktor Juschtschenko besuche, den prowestlichen Präsidenten der Ukraine, will er die Russen hinauswerfen.
Meine Reise in die Ukraine im Herbst 2008 fällt in eine Zeit wilder Spekulationen, dass die Krim — nach Südossetien und Abchasien — das nächste Ziel russischer Ambitionen werden könnte. Mehr als die Hälfte der Bewohner sind Russen. Juschtschenkos Regierungsbeamte werfen Russland vor, Pässe an Russen auf der Krim zu verteilen, wie es auch in Südossetien geschehen ist. Die Regierung Juschtschenko fürchtet, dass ein Streit über die Nutzung des Stützpunktes separatistische Bestrebungen verstärken könnte und dass sich die Krim nach einem Referendum von der Ukraine lossagen könnte.
In Sewastopol, stelle ich fest, ist die Stimmung in der Bevölkerung nicht einfach prorussisch. Eine treffendere Beschreibung wäre wohl prosowjetisch, mit einer beinahe allumfassenden Nostalgie für die UdSSR. Die Bewohner sind vehement gegen Juschtschenkos Pläne, der NATO beizutreten — Pläne, die sich in jeder Hinsicht erledigt haben, als Juschtschenko 2010 abgewählt wird.
Ich frage Anatoli Kalenko, Vorsitzender der Veteranenvereinigung in Sewastopol. «Die Mehrheit der Bevölkerung hier ist für die Präsenz der Schwarzmeerflotte», sagt er. Kalenko zufolge würden sich die Einwohner jedem Versuch, die russische Flotte loszuwerden, widersetzen, vor allem, wenn stattdessen NATO-Schiffe den Stützpunkt kontrollieren würden. «Andere Schiffe lehnen wir hier kategorisch ab. Keine amerikanischen, keine französischen und auch keine türkischen», erklärt Kalenko. «Großbritannien hat eine Seefahrertradition. Wir respektieren das. Wir denken da an Nelson. Aber offen gestanden wollen wir auch euch hier nicht haben.»
Die russische Flotte beschäftigt 25 000 Menschen, sagt Kalenko. Seine Vereinigung lehnt jeden Vorstoß kategorisch ab, die sowjetischen Denkmäler abzureißen, die an den hügeligen Straßen der Stadt stehen. Mir fällt eine Karte der Sowjetunion auf, die an der Wand hängt; über dem Schreibtisch hängt ein Portrait von Lenin. Die Stimmung in der Bevölkerung gegen die NATO sei wenig überraschend, sagt Kalenko, schließlich handele es sich um einen «aggressiven militärischen Block».
Viele der Politiker auf der Halbinsel geben offen zu, dass sie sich wünschen, die Krim träte der Russischen Föderation bei. «Es ist ein Mythos, dass die Ukraine kein Teil Russlands ist. Wir glauben nicht daran», unterrichtet mich Oleg Rodilow, ein prorussischer Abgeordneter im autonomen Parlament der Krim. Wir treffen uns in einem Straßencafé in der Nähe des Parlamentsgebäudes in der regionalen Hauptstadt Simferopol zurückgekemmtes weißes Haar und eine überschw.ngliche Art. Die Ukraine sollte der NATO eine Absage erteilen, einem Freundschafts- und Kooperationsvertrag mit Russland zustimmen und den Pachtvertrag für die russische Schwarzmeerflotte verlängern, findet Grach. Genau das geschieht im April 2010: Wiktor Janukowitsch, der neue prorussische Präsident der Ukraine, verlängert den Pachtvertrag mit Russland um 25 Jahre. Im Gegenzug gewährt ihm Moskau einen Rabatt auf die Gasrechnung.
Russlands Versuche, auf seine unmittelbaren Nachbarn Druck auszuüben, umfassen nicht nur schlichte Gaslieferungsstopps. 2004, nach der Orangenen Revolution in der Ukraine, startet Moskau eine systematische Kampagne zur Finanzierung prorussischer Gruppen auf der Krim. Ziel ist, interethnische Spannungen auf der Halbinsel zu schüren und sie am Kochen zu halten. Durchgesickerten Einschätzungen der Amerikaner zufolge ist Russlands Militärgeheimdienst — der GRU — ganz vorne dabei, wenn es um die Finanzierung lokaler ngos geht, die dann als verlängerter Arm Russlands agieren sollen. (Der FSB, heißt es in einem Memorandum, begrenzt seine Aktivitäten auf Spionageabwehroperationen und darauf, auf «westlichen Besuchern» den Daumen zu halten). Ein Großteil dieses Geldes stammt nicht aus den Schatztruhen des Kremls, sondern von Bürgermeister Luschkow und seiner Moskauer Stadtverwaltung. Luschkows Beamte beharren darauf, dass sie keinen russischen Nationalismus unterstützen, sondern lediglich die russische Sprache und Kultur.
Als ich vom Sewastopoler Museum aus die Straße etwas weiter hinaufgehe, entdecke ich die Räume der «Russischen Gemeinschaft», eine von vielen Nichtregierungsorganisationen zur Förderung der russischen Sprache. Ihre Vorsitzende, Raisa Taliatnikowa, wehrt sich gegen die Unterstellung, sie betreibe eine Art Frontorganisation des Kremls. «Dies ist unser Land. Mein Vater und mein Onkel haben während des Großen Vaterländischen Krieges für dieses Gebiet gekämpft», sagt sie und verwendet die russische Bezeichnung für den Zweiten Weltkrieg. «Warum sollten wir fortgehen? Niemand hat uns gefragt, ob wir in der Ukraine leben wollen. Niemand von uns plant, irgendwohin zu gehen.» Sie gibt zu, dass sie über die Auflösung der Ukraine nicht unglücklich wäre. «Persönlich wäre ich nicht allzu traurig, wenn sie auseinanderbräche. Dann wäre alles wieder am richtigen Platz.»